
Hat er oder hat er nicht? Seit Tagen beschäftigt die Frage, ob der griechische Finanzminister Yanis Varoufakis mitten in der schärfsten Euro-Krise Deutschland den Stinkefinger gezeigt hat, die Öffentlichkeit. Die Blockupy-Proteste in Frankfurt waren quasi nur ein Werbepause in dieser Internet-medialen Aufführung. Nach Tagen der Dauerdebatte wendet sich aber das Blatt: Aus dem Video wird ein Satire-Fake, dann ein Fake-Fake. Wer hat noch den Überblick? Gut gemachte Satire droht jetzt die Glaubwürdigkeit von ARD und ZDF zu beschädigen.
Was dem Zuschauer geboten wird, ist eine mediale Seifenoper mit folgenden Hauptdarstellern:
Griechischer Finanzminister: Yanis Varoufakis
Talkshow-Master: Günther Jauch
Investigativ-Satiriker (erfand seine Drehbuch-Rolle selbst): Jan Böhmermann
In Nebenrollen versuchen eine gute Figur zu machen:
NDR-Chefredakteur Fernsehen: Andreas Cichowicz
ZDF-Programmdirektor: Norbert Himmler
Medienjournalist (stellvertretend für alle, die das Thema kommentiert haben): Stefan Niggemeier
Rückblende – was war geschehen? In der Jauch-Sendung vom 15. März zeigte die Redaktion einen Einspieler eines Varoufakis-Auftritts von 2013 im kroatischen Zagreb, in dem er Deutschland vermeintlich den Mittelfinger zeigte. Der Grieche bestritt in der Live-Sendung die Echtheit des Videos und sagte später u. a.: „Ich habe nie im Leben eine solche Geste gemacht und das deutsche Volk verdient bessere Medien.“
Wumms. Die Jauch-Redaktion konnte keine Anzeichen für eine Fälschung des Stinkefinger-Videos finden. Aussage gegen Aussage. Patt.
Allerdings musste man sich den Vorwurf gefallen lassen, die Aussagen und Gesten von Varoufakis aus dem Zusammenhang gerissen zu haben. Dieser bezog sich bei seiner Rede von 2013 auf Geschehnisse im Jahr 2010 und nicht auf die aktuelle Debatte um die Griechenland-Rettung.
Ein Mangel, den auch NDR-Chefredakteur Andreas Cichowicz eingestehen musste. Nicht nur Content ist King, auch Kontext. Auf Twitter schrieb er auf die Kritik von Medienjournalist Stefan Niggemeier (BILDblog): „Dass er sich auf 2010 bezog, hätte man allerdings sagen sollen.“ Der NDR ist für die Talkshow verantwortlich, produziert wird sie von Jauchs Produktionsfirma i&u TV.
@niggi @BILDblog Dass er sich auf 2010 bezog, hätte man allerdings sagen sollen.
— Andreas Cichowicz (@ACichowicz) 15. März 2015
In der Zwischenzeit versuchte sich der eine oder andere an die Veranstaltung mit Varoufakis in Zagreb zu erinnern. Einer, der dabei war, ist der Journalist Krsto Lazarevic. Erhellendes trat dabei nicht zutage. Ein zweites Video aus anderer Position gibt es bislang nicht.
Ich war auf der „Konferenz“ in Zagreb und versuche mich an einen Stinkefinger zu errinern – @tageswoche :http://t.co/tc1S8O21oU — Krsto Lazarevic (@krstolazarevic) 19. März 2015
Eigentlich wäre das Thema damit durch gewesen, wäre da nicht eine gewisse Eigendynamik gewesen, die sich gerne in den Social-Media-Kanälen entwickelt und die noch lange nicht erschöpft ist, auch wenn schon gefühlt jeder etwas dazu gesagt und geschrieben hat.
Dann: Auftritt Jan Böhmermann. Als Kopf der satirischen Late-Night-Show „Neo Magazin Royale“ und gnadenloser Selbstvermarkter stellte er am Mittwoch ein Vorab-Video seiner Sendung online. Es zeigte und erklärte plausibel, wie seine Redaktion den Varoufakis-Stinkefinger in das ursprüngliche Video aus Zagreb hineinmontierte und offenbar der Jauch-Redaktion – wie auch immer – unterschob.
Touché! Was für ein Scoop!
Wieder läuft die Medien-Maschine heiß. Varoufakis fordert immer noch eine Entschuldigung von Jauch. Digitalforensiker, Videofreaks und selbst ernannte Internetexperten streiten um die Deutungshoheit. Medienkritiker schreiben bedeutungsschwangere und latent selbstkritische Beiträge – oder fühlen sich irgendwie als Sieger.
Ich würde jetzt gerne die roten Flecken in den Gesichtern der Leute beim NDR, bei Jauch, bei i&u, bei Bild sehen. #varoufake
— Stefan Niggemeier (@niggi) 18. März 2015
„Nach fünfzehn Stunden Ausnahmezustand im Social Web“ (Spiegel Online) – Twitter lief unter dem Hashtag #varoufake heiß – versuchte das ZDF die ganze Sache irgendwie wieder einzufangen. In einer kurzen Pressemitteilung schrieb der Sender: „Das Neo Magazin Royale ist eine Satiresendung. Die Redaktion hat die Debatte über das Varoufakis-Video nach der Ausstrahlung in der Jauch-Talkshow satirisch zugespitzt. Dafür haben Jan Böhmermann und seine Redaktion die Möglichkeiten der Video-Manipulation sehr anschaulich dargestellt.“
Wir erwägen künftig bei allen @neomagazin-Ausstrahlungen im TV und im ZDI den Warnhinweis „Vorsicht Satire!“ zu platzieren. #varoufake — ZDF (@ZDF) 19. März 2015
ZDF-Programmdirektor Norbert Himmler ergänzt auf Spiegel Online süffisant: „Wir sehen uns gezwungen, das ,Neo Magazin Royale‘ zukünftig als Satiresendung zu kennzeichnen.“
Also ein Fake-Fake des Varoufakis-Videos. Die Böhmermann-Enthüllung über das angeblich von ihm manipulierte Video war nur Satire. Verdammt gut gemachte Satire, die der ganzen medialen Aufgeregtheit noch eins draufsetzte.
Da minus mal minus plus ergibt, bleibt bei einem Fake-Fake die Ausgangslage echt. Das bei Jauch gezeigte Video ist also – nach jetzigem Stand – keine Fälschung. Rote Flecken im Gesicht von Beteiligten können wieder abklingen.
Redaktionen und Experten versuchen ihre bisherigen Verlautbarungen irgenwie wieder einzufangen und die Kurve zu kriegen:
Neu im Blog: Was ich durch #varoufake gelernt habe. http://t.co/q76FMLuuc8
— Stefan Niggemeier (@niggi) 19. März 2015
Jan Böhmermann reicht das allerdings nicht. In einer Reaktion auf die Erklärung des ZDF sagte er: „Unser Video ist zu 100 Prozent echt. Wer das Gegenteil behauptet, ist ein Lügner.“
Dass seine Aktion allerdings eine Persiflage auf den Medienhype um den griechischen Mittelfinger ist, lässt er dann doch irgendwie durchblicken: „Niemals würden wir die notwendige journalistische Debatte über einen zwei Jahre alten, aus dem Zusammenhang gerissenen Stinkefinger und all diejenigen, die diese Debatte ernsthaft führen, derart skrupellos der Lächerlichkeit preisgeben.“
Er hat’s geschafft. Es bleibt nur nochmals zu sagen: Touché!
Inzwischen hat sogar der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) im Zusammenhang mit dem umstrittenen Varoufakis-Video alle Seiten zur Mäßigung aufgerufen. Das macht er in der Rolle des Gralshüters auch bei anderer Gelegenheit gerne.
Bleibt die Frage, was ist noch echt? Der griechische Finanzminister auf Twitter? Ein blaues Häkchen als Zeichen für einen geprüften Account hat er dort nicht. Ist Varoufakis vielleicht auch nur ein Account von Rob Vegas, der auf Twitter auch Harald Schmidt darstellt und damit regelmäßig seriöse Medien leimt? Oder vielleicht ein griechischer Martin Sonneborn?
Für die Masse der Zuschauer dürften diese Überlegungen keine Rolle spielen. Sie tummeln sich nicht in medial-selbstreferentiellen Twitter-Blasen und beschäftigen sich den ganzen Tag mit Fake-Kaskaden.
Für einige Millionen Zuschauer und Bild-Leser wird der Beigeschmack bleiben, dass alles irgendwie manipulierbar ist. Das Vertrauen in Videobeweise wird sinken. Was ist noch echt? Was ist ein Fake? Was ist Satire?
„Satire ist Satire ist Satire. Sie darf alles. Muss aber nicht“, schreibt NDR-Chefredakteur: Andreas Cichowicz auf Twitter.
Richtig. Das haben schon die beiden Karikaturisten Greser & Lenz in der Diskussion um Mohammed-Karikaturen gesagt. Allerdings bemerkten sie auch, dass Satire als solche erkennbar sein muss, um sie vom Journalismus zu unterscheiden. Hier liegt die Grenzüberschreitung von Jan Böhmermann.
Böhmermanns Coup ist in vielerlei Hinsicht entlarvend. Er persifliert unsere Obsession mit unwichtigen, aber griffigen Nebensächlichkeiten (mit dem fast tragisch-ironischen Nebeneffekt, dass er die Beschäftigung mit dieser lächerlichen Geste nun noch einmal intensiviert hat); er kritisiert die Skandalisierungs-Mechanismen von Menschen und Medien, den Umgang mit vermeintlichem Beweismaterial, die Kampagne gegen einen missliebigen Politiker und eine ungewünschte Politik, die Reduzierung einer komplexen Debatte auf eine Geste. Aber er zeigt auch, wie bereitwillig wir Dinge glauben, die wir glauben wollen, und das betrifft im konkreten Fall auch: mich. (Medienjournalist Stefan Niggemeier)
Ja, Böhmermann hat uns den Spiegel vorgehalten, aber: Satire ohne den Satire-Stempel wird schnell zum Eigentor für die Glaubwürdigkeit der Medien. Darin dürfte auch der Grund liegen, warum das ZDF am Donnerstag humorvoll aber zügig die Luft aus Böhmermanns Nummer herausgelassen hat.
Noch eine Fake-Fake-Kaskade würde schnell zum Eigentor für die Sender.
Bei Böhmermann wird wohl in Zukunft öfters mal ein Programmverantwortlicher über die Beiträge schauen. Günther Jauch hat am Sonntag die Herausforderung, die Fake-Kaskaden kürzer zu erklären als ich es hier geschafft habe 😉
Oder hat am Ende doch die ARD-Satire-Sendung Extra3 recht:
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[…] wie die kritisierten Medien selbst. Niggemeier musste das schmerzvoll erfahren, als er auf der Stinkefinger-Fakevideo von Jan Böhmermann zu Varoufakis hereinfiel. Er folgte nur seinen […]