
Spätestens, als die Tragödie um den Germanwings-Flug 4U9525 am Donnerstag nach dem Absturz eine dramatische Wende nahm, entbrannte unter Journalisten eine heftige Diskussion darüber, ob Medien den Namen des Copiloten Andreas Lubitz nennen und sein Gesicht zeigen dürfen. Dazu kann es aus meiner Sicht nur eine Antwort geben: Ja, sie dürfen, sie sollten sogar.
Lubitz ist seit Donnerstag nicht mehr Opfer sondern nach Indizienlage Tatverdächtiger. Der 27-Jährige steht im Verdacht, auf dem Flug von Barcelona nach Düsseldorf den Piloten aus dem Cockpit ausgesperrt und die Maschine mit 150 Menschen mit Absicht zum Absturz gebracht zu haben.
Wer in seiner Facebook- oder Twitter-Timeline Kontakte aus der Medienbranche hat, rieb sich in den Tagen nach der Katastrophe zuweilen verwundert die Augen. Die Diskussion um Qualität und Inhalt der Berichterstattung zu 4U9525 wurde mit einer noch nicht dagewesenen Schärfe und Verbissenheit geführt.
Dass der eine oder andere sich gerne an Alphatieren der Branche wie Bild-Chefredakteur Kai Diekmann abarbeitet, hat nicht selten Marketing-Gründe, besser gesagt Eigenmarketing-Gründe. Wer mit einem bissigen Tweet zur „skandalösen“ Bild-Berichterstattung von Diekmann selbstbewusst retweetet wird, kann sich über Aufmerksamkeit und ein paar neue Follower freuen. Ein kleiner Niggemeier mehr.
Die Seite 1 von @BILD morgen. pic.twitter.com/Sw1yRfU7Q7 — Kai Diekmann (@KaiDiekmann) 26. März 2015
Doch auch jenseits der Leistungen des Boulevards entbrannte schnell eine Diskussion unter den Kollegen, ob der Name des Copiloten Andreas Lubitz ausgeschrieben werden darf und ob sein Gesicht unverpixelt abgebildet werden darf. Meine Haltung dazu: eindeutig ja!
Alexander Marinos, geschätzter Kollege aus Wetzlarer Zeiten und heute stellvertretender Chefredakteur der WAZ, schrieb bei Facebook: „Es ist schon erstaunlich, auf welch‘ hohem Ross manche Kollegen sitzen, um dann andere Kollegen ganz unkollegial darauf hinzuweisen, dass Sie Verbündete des Teufels sind. Medienethische Debatten sind wichtig, um Positionen zu finden und zu festigen. Wer aber von Anfang an davon ausgeht, selbst die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben, leistet keinen konstruktiven Beitrag.“
Doch der erhobene Zeigefinger der einen Hand und die moralische Keule in der anderen Hand waren in diesen Tagen beliebte Werkzeuge der „Besonnenen“, derer, die nicht irgendwie Bild-Zeitung sein wollten.
Der mutmaßliche 149-fache Mord von Lubitz ist in der Kriminal- und Luftfahrtgeschichte ein so außergewöhnliches Ereignis, dass das öffentliche Interesse daran auf jeden Fall gegeben ist. Wer sicher gehen will, schaut in den Pressekodex, eine Selbstverpflichtung der Verlage. Dort heißt es unter Ziffer 8:
„Die Presse veröffentlicht dabei Namen, Fotos und andere Angaben, durch die Verdächtige oder Täter identifizierbar werden könnten, nur dann, wenn das berechtigte Interesse der Öffentlichkeit im Einzelfall die schutzwürdigen Interessen von Betroffenen überwiegt. Bei der Abwägung sind insbesondere zu berücksichtigen: die Intensität des Tatverdachts, die Schwere des Vorwurfs, der Verfahrensstand, der Bekanntheitsgrad des Verdächtigen oder Täters, das frühere Verhalten des Verdächtigen oder Täters und die Intensität, mit der er die Öffentlichkeit sucht.“
Wohlgemerkt: Dies bezieht sich auf den mutmaßlichen Täter. Auf Lubitz. Für die Opfer und deren Angehörige gelten aus gutem Grund andere, strengere Maßstäbe.
Wer als Nachrichtenredakteur auch im Jahr 2015 den Kontakt zur Außenwelt noch ausschließlich über Agenturen hält, der könnte zumindest einen Blick in die Google-Trends werfen. Dort gab es allein am Donnerstag nach dem Absturz über eine halbe Million Suchanfragen nach dem Namen „Andreas Lubitz“. Die Frage, ob der Name und Informationen zur Person für den Leser von Relevanz sein können, also ein (berechtigtes) Interesse vorliegt, wäre schon ohne lange medientheoretische Betrachtungen beantwortet.

Auch der mediale Umgang mit Kriminalfällen der Vergangenheit und Gegenwart zeigt, dass hier kein Tabubruch erfolgt. Ich zitiere mich mal ausnahmsweise selbst:
Oswald, Ağca, Atta, Breivik, Steinhäuser, Kouachi… Und nun Streit, ob Medien #Lubitz schreiben dürfen? Sorry, absurd & scheinheilig! — Ralph Menz (@Ralph_Menz) 27. März 2015
Die Liste der (mutmaßlichen) Mörder und Attentäter ließe sich noch um einige gewichtige Fälle fortsetzen. Gab es eine Diskussion darüber ob wir in den Medien die Namen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe ausschreiben und ihre Gesichter unverpixelt zeigen dürften? Aus gutem Grund nein. Ihre Taten sind nicht vergleichbar. Sie alle sind mit dem, was sie (mit hoher Wahrscheinlichkeit) getan haben, aber Personen der Zeitgeschichte geworden. Das trifft auch für Andreas Lubitz zu – wohlwissend, dass es immer noch ein Restrisiko gibt, dass alles doch anders war. Oder es vielleicht nie ganz aufgeklärt werden wird.
Medien recherchieren in Anbetracht einer solchen Katastrophe auch im privaten Umfeld des mutmaßlichen Täters und veröffentlichen ihre Ergebnisse. Das ist Teil ihrer Aufgaben. Wie sollten Medien sonst ihren grundgesetzlichen Auftrag als vierte Gewalt im Staat erfüllen können, wenn sie nur Pressemitteilungen und Statements der Behörden und anderer Beteiligter wie etwa der Fluglinie veröffentlichen ohne diese mit eigenen Erkenntnissen abgleichen zu können?
Ja, und es gehört auch dazu, dass Wohnhaus des Tatverdächtigen zu fotografieren und zu filmen. Schließlich ist jedem klar, dass es binnen kurzer Zeit zum Schauplatz polizeilicher Ermittlungen wird. Dies zu dokumentieren und zu berichten ist ebenfalls Aufgabe der Medien. Ein Name, ein Gesicht, ein Haus – dass sind Puzzleteile, um vielleicht irgendwann etwas heute noch Unbegreifliches zu ergründen.
Dialektik der Medienkritik: Zurückhaltung, Differenzierung, Sachlichkeit einfordern und von Meuten schreiben. — Froben Homburger (@fhomburger) 29. März 2015
Wer dann von Medienmeute und Belagerung spricht, macht es sich doch reichlich einfach und bequem. Da kann ich dpa-Nachrichtenchef Froben Homburger nur zustimmen.
Dass Berufs- und Dauerkritikern wie Thomas Knüwer, Stefan Niggemeier oder Hans Hoff den Journalismus tendenziell im Sinkflug sehen, mag zu ihrem Geschäft gehören. Klappern gehört zu ihrem Handwerk. Die Medienkritik bedient sich bei genauerer Betrachtung ähnlicher Werkzeuge und Muster wie die kritisierten Medien selbst. Niggemeier musste das schmerzvoll erfahren, als er auf der Stinkefinger-Fakevideo von Jan Böhmermann zu Varoufakis hereinfiel. Er folgte nur seinen Reflexen.
Und wer von seinem Berufsstand so enttäuscht und deprimiert ist wie Hans Hoff und kein Journalist mehr sein möchte, ja, sogar titelt „Der Journalismus existiert nicht mehr„, dem sei gesagt: Reisende soll man nicht aufhalten. Ich sage: Der Journalismus war noch nie so vital wie heute (nicht zu verwechseln mit seinen Geschäftsmodellen).
Nach der Kritik kommt die Kritik der Kritik, dann die Kritik der Kritik der Kritik und dann irgendein Metastück über alles. Ich werd alt. — David Hugendick (@davidhug) 27. März 2015
Wer seine journalistischen Aufgaben wie Information, Einordnung und Aufklärung ernst nimmt, wer seinen Lesern und Zuschauern die Gretchenfrage nach dem Warum beantworten will, der sollte gelegentlich auch dorthin gehen, wo es weh tut und wo Türen zu sind. Der darf nervende Fragen stellen. Wir öffnen schließlich auch Akten auf denen „vertraulich“ steht.
Wem die journalistische Kompassnadel in hektischen Zeiten allzu sehr flattert, der muss nicht gleich seinen Presseausweis abgeben, wie es Stefan Winterbauer im Branchen-Boulevard Meedia zugespitzt fordert. Er oder sie könnte aber vertiefend über diese journalistischen Kernaufgaben nachdenken und reflektieren, was er oder sie bereit ist für den Leser zu tun. Unser Platz ist nun mal zwischen den Stühlen.
Gelegentlich vermisse ich den alten 10-D-Mark-Schein. Nicht weil ich Währungsnostalgiker bin, sondern weil dort die Kurve der Normalverteilung nach Gauß abgebildet war. Unter dieser Kurve hat sich für mich auch die Berichterstattung zu Germanwings-Flug 4U9525 bewegt. Ein paar waren links und rechts vom Mittelwert hart am Rand – nicht jede Sendeminute, nicht jedes Expertengespräch war erhellend-, die meisten waren aber solide unter der Glocke. Unterm Strich und in Anbetracht der Außergewöhnlichkeit des Ereignisses also kein Grund zum medialen medienkritischen Hyperventilieren.

Update I, Montag, 30. März 2015:
Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf erklärt: Der Copilot der Germanwings-Maschine „war vor mehreren Jahren – vor Erlangung des Pilotenscheines – über einen längeren Zeitraum mit vermerkter Suizidalität in psychotherapeutischer Behandlung. Im Folgezeitraum und bis zuletzt haben weitere Arztbesuche mit Krankschreibungen stattgefunden, ohne dass Suizidalität oder Fremdaggressivität attestiert worden ist.“
Update II, Freitag, 3. April 2015:
„Der Co-Pilot der Germanwings-Maschine hat bewusst den Sinkflug ausgelöst, das zeigt die Auswertung des zweiten Flugschreibers. Andreas Lubitz veränderte den Autopiloten mehrfach, sodass der Airbus beschleunigt wurde.“, schreibt Spiegel Online am Karfreitag.
Zudem hatten Auswertungen seiner privaten Computer ergeben, dass er sich über den Verriegelungsmechanismus der Cockpittur im Internet informierte, erklärte die Staatsanwaltschaft Düsseldorf in einer Pressemitteilung vom 2. April:
Bei der Durchsuchung an der Wohnanschrift in Düsseldorf konnte darüber hinaus ein sog. Tablet sichergestellt und bereits ausgewertet werden. Der Name des Anmelders, die persönliche Korrespondenz und eingegebene Suchbegriffe tragen den Schluss, dass das Gerät im relevanten Zeitraum vom Co-Piloten genutzt wurde. Der Browserverlauf war nicht gelöscht, insbesondere konnten die in der Zeit vom 16.03. bis zum 23.03.2015 mit diesem Gerät aufgerufenen Suchbegriffe nachvollzogen werden. Danach hat sich der Nutzer zum Einen mit medizinischen Behandlungsmethoden befasst, zum Anderen über Arten und Umsetzungsmöglichkeiten einer Selbsttötung informiert. An mindestens einem Tag hat sich der Betreffende darüber hinaus über mehrere Minuten mit Suchbegriffen über Cockpittüren und deren Sicherheitsvorkehrungen auseinandergesetzt.
Das bestätigt die bisherigen These vom Selbstmord mit Massenmord an 149 Menschen. Damit ist aus meiner Sicht auch die medienethische Diskussion darüber, ob man den Namen des Copiloten auschreiben darf, obsolet. Eine Diskussion, die nur in Deutschland geführt wurde.
Zum Schluss noch eine Leseempfehlung für den bosnisch-kroatischen Schriftsteller Miljenko Jergovic, der ein Essay unter dem Titel „Andreas Lubitz – ein Kind seiner Zeit“ geschrieben hat.
Die Übersetzung gibt’s hier.
Update III, Freitag, 5. Juni 2015:
Nach zahlreichen Beschwerden über die Germanwings-Berichterstattung und besonders die Namensnennung des Piloten in deutschen Medien, hat sich der Deutsche Presserat mit dem Thema befasst. Kurz gesagt kommt er zu folgendem Ergebnis: Es war eine außerordentlich schwere Tat und es herrschte ein großes öffentliches Interesse. Daher war die Namensnennung zulässig.
Hier der vollständige Text des Presserats zum Thema:
Der Co-Pilot des Germanwings-Flugs 4U9525 durfte nach Ansicht des Deutschen Presserats in den allermeisten Fällen benannt und abgebildet werden. Die Abbildung von Opfern und deren Angehörigen war jedoch in der Regel unzulässig. Zu diesem Ergebnis kamen die Beschwerdeausschüsse des Presserats nach intensiven Beratungen über die Beschwerden zur Berichterstattung über das Unglück. Insgesamt hatten 430 Menschen die Berichterstattung beanstandet. Das ist die höchste Zahl an Beschwerden zu einem einzelnen Ereignis seit Gründung der Freiwilligen Selbstkontrolle der Presse.
In den Sitzungen am 2. und 3. Juni 2015 spielte die Frage, ob der Name des Co-Piloten genannt und sein Bild ohne Unkenntlichmachung gezeigt werden durfte, die größte Rolle, da zu diesem Thema die meisten Beschwerden eingegangen waren. Dabei war eine Vielzahl an Faktoren zu berücksichtigen.
Zunächst handelte es sich bei dem Germanwings-Unglück nach Ansicht des Presserats um eine außergewöhnlich schwere Tat, die in ihrer Art und Dimension einzigartig ist. Dies spricht für ein überwiegendes öffentliches Interesse an dem Fall insgesamt, jedoch könnte es auch Gründe geben, die dennoch eine Anonymisierung erfordern würden.
So könnte z.B. durch die Nennung des Namens des Co-Piloten, seines Wohnortes und der Information, dass er auch im Elternhaus gelebt hat, die Identifizierung der Eltern ermöglicht werden. Aus Sicht des Presserats überwiegt jedoch in diesem außerordentlichen Fall das öffentliche Interesse an der Information über den Täter, soweit es die reine Nennung des Nachnamens betrifft.
Beschäftigt hat sich der Presserat auch mit der Frage, ob das Ereignis als Suizid zu behandeln ist und deshalb besondere Zurückhaltung geboten gewesen wäre. Dieser Gesichtspunkt tritt jedoch im Hinblick auf die 149 weiteren Todesopfer zurück.
Schließlich setzte sich der Presserat mit einer möglichen Vorverurteilung des Co-Piloten durch die Berichterstattung auseinander. Er kam zu der Auffassung, dass die Medien ab dem Zeitpunkt der Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft Marseille am Mittag des 26.3.2015 davon ausgehen durften, dass Andreas Lubitz das Flugzeug absichtlich zum Absturz gebracht hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatten entsprechende Erkenntnisse durch die Auswertungen des Sprachrekorders und weitere Ermittlungen der französischen Luftfahrtbehörde vorgelegen. Zusammen mit der Einzigartigkeit des Falls war in der Gesamtschau eine Nennung des Namens des Co-Piloten aus Sicht des Presserats zulässig.
Nicht entscheidend war hingegen, dass internationale Medien bereits Namen veröffentlicht hatten, da in Deutschland in der Regel andere ethische Maßstäbe im Allgemeinen und der Pressekodex des Deutschen Presserats im Besonderen ausschlaggebend für die Presse sind.
Als sehr hoch zu bewerten ist die Schutzwürdigkeit der Opfer und ihrer Angehörigen. Deren Namen und Fotos dürfen aus Sicht des Presserats nur dann identifizierbar veröffentlicht werden, wenn es sich um berühmte Persönlichkeiten handelt oder eine ausdrückliche Zustimmung vorliegt.
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Bin in so fern Deiner Meinung, als ich es nach meinem Verständnis der medienrechtlichen Lage auch in Deutschland für absolut korrekt halte, als „Tatverdächtiger“ und „relative Person der Zeitgeschichte“ das Bild zu zeigen und den Namen zu nennen? An sich genügt zwar der Verdacht alleine in D nicht, (das soll ja m.E. v.a. vor „Gerüchten“ oder Verleumdungen schützen, die dann plötzlich als angebliche Fakten zur Nennung führen) allerdings gibt es genügend Urteile, dass sich dies entsprechend ändert, sobald der Tatverdacht groß genug ist … und das ist er hier ja wohl ..