
Millionen waren live dabei, als eine launige Fußball-Reportage aus Paris zu einer Terror-Berichterstattung wurde. Die ARD kam ins Schleudern und war weder organisatorisch noch fachlich vorbereitet.
Wie viele andere schaute ich am Freitagabend das Fußball-Freundschaftsspiel Frankreich–Deutschland. Allerdings schaltete ich erst in der Pause zu den Kurz-Tagesthemen zu. Ich hatte also die im Stadion und auch in der Übertragung hörbaren Explosionen in der ersten Halbzeit nicht mitbekommen. Die erste hatte ca. in der 20. Minute des Spiels stattgefunden.
Nachdem Thomas Roth zum Terror in Paris wortlos blieb und die 7-Minuten-Tagesthemen beendete, übernahm bald wieder Tom Bartels die Kommentierung aus dem Stadion in Paris. Zwischenzeitlich schaute ich bei Twitter (noch in Unkenntnis der Lage), was meine Timeline zum Gekicke der ersten Halbzeit sagt.
Erstaunt stellte ich fest, dass es eine ganze Reihe von Tweets und Retweets gab, die sich unter dem Hashtag #FRAGER mit schweren Vorfällen in der Stadt und rund um das Stadion beschäftigten, aber nicht mit Fußball. #FRAGER war schon längst ergänzt um #ParisShooting, später zu #ParisAttacks. Von Terror in Paris, von Explosionen und Schießereien war da die Rede.

Als Journalist weiß ich, dass es Informationen erst zu prüfen gilt, bevor man damit auf Sendung geht. Daher können seriöse Medien niemals so schnell sein wie nicht geprüfte Informationen auf Twitter verbreitet werden. Allerdings wunderte ich mich angesichts der bei Twitter existierenden Nachrichtenlage französischer und britischer Medien schon, dass Thomas Roth nicht mal den Hinweis brachte à la: „Nach unseren Informationen gab es einen Zwischenfall in Paris. Wir halten Sie während der Übertragung der zweiten Halbzeit auf dem Laufenden.“
Als das Spiel weiterlief wartete ich nun minütlich auf Informationen. Doch lange geschah nichts. Erst nach und nach ließ Moderator Tom Bartels durchtröpfeln, dass die in der ersten Halbzeit hörbaren Explosionen Anschläge mit schweren Folgen waren.
Danach tat Bartels etwas, was menschlich ist, was ich aber bei einem professionellen Reporter, der vor einen Millionen-Publikum kommentiert, noch nie erlebt habe und mir auch nicht hätte vorstellen können: Bartels sagte wörtlich, dass er mit der Lage überfordert sei, ihm die Knie schlotterten und er keine Lust mehr habe über das Spiel zu sprechen und er sonst aber auch nicht mehr wüsste (die zweite Halbzeit mit der Kommentierung gibt es hier).

Bartels war an diesem Abend um seinen Job am Mikro sicherlich nicht zu beneiden. Was ich allerdings von jeden professionellen Fernsehjournalisten erwarte, ist eine gewisse Distanz zum Geschehen und einen kühlen Kopf in Krisensituationen. Beides ließ Bartels leider vermissen. Statt dessen Emotionen und nachrichtliche Desorientierung.
Hinzu kam, dass die Redaktion und Sendeleitung im Hintergrund offenbar genauso hilf- und kopflos agierte: Gab es einen Nachrichten-Ticker als Einblendung in die Spielberichterstattung? Splitscreen? Nein. Nichts zu sehen von all dem. Andere Sender waren längst mit Breaking News dabei. Die ARD-Bildregie tat so, als sei nichts passiert. Bloß kein Bild ohne Ball.
Dass es dieses journalistische TV-Standardwerkzeug erst nach dem Abpfiff der Partie gab, legt den Verdacht nahe, dass die DFB-lizensierte Übertragung mit DFB-Logo es nicht zuließ. Meine Anfrage dazu an die ARD-Pressestelle wird bis dato mit beredtem Schweigen beantwortet.

Leider machte auch Matthias Opdenhövel nach dem Spiel keinen besseren Job. Während die Behörden in Paris schon aufriefen, die Lage nicht mit der Verbreitung von Gerüchten zu verschärften, tat Opdenhövel genau das. Mehrfach sprach er ins Mikro, er habe als Gerücht gehört, dass….
Beim Infotainment vom Transfermarkt der Bundesliga mag das eine gängige Praxis sein. Bei einer harten, dynamischen Nachrichtenlage ist es hingegen eine journalistische Todsünde.
Positiv ist anzumerken, dass die Regie rechtzeitig Co-Moderator Mehmet Scholl aus dem Bild zog, bevor er ganz zusammenbrach.
Völlig geschmacklos und deplatziert waren die weiteren Einspieler zu irgendwelchen anderen Fußballspielen. Wer wollte das noch hören und sehen.

Nach viel Hängen und Würgen folgte die erste „Tagesschau extra“. Ellis Fröder hatte es bis dahin schon ins Studio geschafft, die Sendung blieb aber irgendwie inhaltsleer. Erst lange nach Mitternacht erreichte die ARD bei der Nachrichtenlage wieder Ballhöhe und Thorsten Schröder moderierte souverän und professionell aus Hamburg.
Der von mir sehr geschätzte WDR-Nachrichtensprecher Udo Stiehl hat am Samstag in seinem Blog nachrichtengiftschrank.de die schon am Freitagabend geäußerte Kritik an der ARD-Berichterstattung zurückgewiesen und von „unerfüllbarer Anspruchshaltung an die Medien“ gesprochen.
Während ich ihm bei vielen seiner lesenswerten Blogbeiträge uneingeschränkt zustimme, muss ich in diesem Fall widersprechen. Hier als Replik auf Udo Stiehl eine Zusammenfassung meine Kritik am Fußball- und Terror-Abend in der ARD:
1. Opdenhövel verbreitete Gerüchte
Der Zuschauer kann auch von Sportreportern einen journalistisch professionellen Umgang mit einer Krisensituation erwarten. Statt dessen bekam er Kapitulation und Gerüchteschleuder. Bei der weltweiten Terror- und Krisenlage sind Anschläge auf Sport-Großveranstaltungen kein unmögliches Szenario. Spätestens seit dem Boston-Marathon sollte jede TV-Redaktion mal besprochen haben, wie sie in einer Live-Situation (!) damit umgehen könnte.
2. Die ARD ignorierte Social Media völlig
Richtig, Mitarbeiter der Nachrichtenagenturen stehen nicht an jeder Ecke und warten, dass ein Anschlag passiert. Wer wie die ARD an diesem Abend die Social-Media-Kanäle als Quelle völlig ignoriert, darf sich im Jahr 2015 nicht wundern, dass er langsamer als andere ist. Wer an so einem Abend nur auf seine Agenturen wartet, der wartet eben erst mal.
3. Reporter ohne Team hilflos und nicht sendefähig
Richtig auch, dass die ARD nicht über unendliche Personalkapazitäten verfügt. Etwas verwundert sehe und lese ich am Tag nach den Anschlägen aber, welche Reporter und Mitarbeiter aus der großen ARD-Familie zufällig in Paris waren. Ist denn keiner auf die Idee gekommen, in Hamburg anzurufen und zu sagen „ich habe Videos mit meinem Smartphone gemacht oder kann O-Töne liefern/einfangen, ich war Augenzeuge“? Oder ist das in Hamburg konzeptionell gar nicht gewünscht? Solche Inhalte habe ich bei der ARD jedenfalls nicht gesehen. Sind Periscope, Meerkat und Twitter Fremdworte? Erst am Samstag wurden stolz Handyaufnahmen von Reporter Mathias Werth auf der Endlosschleife von tagesschau24 gezeigt. Sorry Herr Werth, aber jeder Schüler hätte das besser hinbekommen. Heutzutage sollte jeder Journalist mit einem Smartphone sendefähig sein. Es gibt Kurse dafür.
4. Andere waren schneller und besser
Eine seriöse Berichterstattung braucht in der Redaktion Zeit und beim Zuschauer Geduld, sagt Udo Stiehl. Auch das ist richtig. Es sei aber die Frage erlaubt, warum andere seriöse Medien außerhalb Frankreichs wie etwa die BBC oder N24 schon mit Live-Bildern auf Sendung waren und Telefongespräche mit Augenzeugen führten, während ARD-Korrepondnetin Ellis Fröder noch im Taxi oder der Maske saß und die ARD irgendwelche Fußball-Einspieler sendete.
5. ARD ist in ihren Strukturen nicht vorbereitet
Ich möchte einzelnen, überforderten Mitarbeitern keinen Vorwurf machen. Dieser Abend in der ARD war gewiss eine Ausnahmesituation. Er hat aber gezeigt, dass die Strukturen der ARD auf solch einen Live-Krisenfall völlig unzureichend vorbereitet sind. Und das 14 Jahre nach 9/11 und 2,5 Jahre nach dem Anschlag auf den Boston-Marathon.
Von jeder kleinen Regionalzeitung würde ich heute erwarten, dass sie rechtzeitig darüber nachdenkt, wie sie reagiert, wenn in ihrem lokalen Bereich eine Nachrichtenlage mit nationaler oder internationaler Bedeutung (Amok, Flugzeugabsturz etc.) passiert. Wie kann sie schnell auf Live-Berichterstattung umschalten und ihre Online- und Reporter-Kapazitäten freischaufeln. Der ARD sind solche Überlegungen offenbar fremd oder sie können nicht umgesetzt werden. Keinen anderen Schluss lässt der Ablauf am Abend der Terroranschläge von Paris zu.
Der Vorwurf wäre gegenstandslos, hätten es andere nicht besser gemacht.
Unterdessen verabschiedete sich Matthias Opdenhövel auf seinem Twitter-Account leicht motzig aus Paris. Will nichts mehr mit Medien zu tun haben. Wieder überfordert.
(Fotos: Screenshots Das Erste und Twitter)
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Sehr gut & sachlich analysiert !
ARD/ZDF dürften materiell deutlich besser ausgestattet sein als BBC heutzutage – da muss der Vergleich erlaubt sein.
Den Hinweis, dass wegen DFB-Auflage … sehr interessant!
Danke, sehr erhellender Kommentar.
Nur, mehr Gnade mit Opdenhövel bitte. Sportreporter wird man nicht, weil man sachlich ist, sondern Emotionen rüberbringt. Der hat da wohl seinen weißen Fleck.
In weiten Teilen bin ich bei deiner Medienkritik eins zu eins bei dir. Allerdings bleibt jeder Reporter immer noch Mensch. Und ich glaube, dass wir im Elfenbeinturm der Wissenden und gottseidank (nicht) persönlich Befassten uns wahrscheinlich nicht vorstellen können, wie einem selbst als Profi die Düse gehen kann, wenn man plötzlich in einer solchen Lage ist. Ich finde Kollegen Kritik angemessen und richtig, so wie du sie auch formuliert hast, man sollte trotzdem nicht vergessen, dass es für manche Situationen, wenn es hart wird, eben doch keine richtig passende Blaupause gibt.