
Das Internet dringt in alle Lebensbereiche vor: Menschen lernen sich über Dayting-Plattformen kennen, sie buchen ihre Reisen online und bestellen Bücher abends auf der Couch. Doch welche Folgen hat das für die Innenstädte und den Einzelhandel in der Region? Wie gravierend sind Veränderungen? Überleben wird, wer eine Nische findet oder Online und Offline intelligent kombiniert, sagt der Trend- und Zukunftsforscher Andreas Haderlein.
Herr Haderlein, die Geschäfte in den Innenstädten haben es immer schwerer, gleichzeitig schießen Onlineshops wie Pilze aus dem Boden. Wird es den klassischen Einzelhändler – gerade im ländlichen Raum – bald nicht mehr geben?
Andreas Haderlein: Für den inhabergeführten Einzelhandel sieht die Zukunft sicherlich nicht rosig aus. Zur drückenden Online-Konkurrenz gesellen sich noch weitere Herausforderungen, etwa die Nachfolgeregelung, die großflächigen Händler auf der Grünen Wiese oder innerstädtische Einkaufsgalerien. Insofern reicht es für einen klassischen stationären Einzelhändler nicht mehr, Waren ins Regal zu stellen und darauf zu hoffen, dass Kunden kaufen müssen. Die Alternativen sind für den Konsumenten heute einfach zu groß. Und aus Mitleid wird er sicherlich nicht sein Geld im Handel vor Ort lassen. Dennoch kann sich auch ein inhabergeführtes Geschäft auf Tugenden wie Beratungskompetenz und ansprechenden Laden- bau beziehen und so eine treue Klientel halten und gewinnen. Es bringt allerdings nichts, den stationären Handel „alter Schule“ zu romantisieren. Auch ein Händler alten Formats muss sich mit dem Internet und den Chancen für sein Geschäft auseinandersetzen.
Wer treibt den Wandel voran? Sind es die Onlinehändler, die großen Internet-Konzerne wie Google oder die Kunden, die lieber von zuhause bestellen?
Haderlein: Es ist das veränderte Einkaufsverhalten, das zunehmend durch die Mediennutzung geprägt ist. Studien zeigen, dass die Frequenz in Innenstädten aufgrund zunehmender Online-Käufe abgenommen hat. Und jeder Händler weiß ein Liedchen vom sogenannten Beratungsklau zu singen, wenn Kunden vor Ort Produkte sehen wollen, sich mitunter beraten lassen, aber gleichzeitig den Preis via Smartphone-App vergleichen und – wenn es ganz dumm läuft – das Produkt dann über Amazon bestellen.
Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass ein Viertel aller Suchanfragen über Google lokalen Charakter haben. Bei Suchanfragen mit dem Smartphone sind es gar ein Drittel. Das Internet ist also alles andere als eine Globalisierungsmaschine, sondern hilft Menschen sich auch vor Ort zu orientieren. Seien es Öffnungszeiten von Geschäften, Abfahrtszeiten von Zügen oder die Abfrage der lokalen Verfügbarkeit von Produkten.
Ist das Thema Innenstadt kontra „grüne Wiese“ noch ein Thema, oder geht es ums Überleben beider?
Haderlein: Künftig reicht dem Handel rein betriebswirtschaftlich weniger Verkaufsfläche, um die Warendistribution für die Bevölkerung sicherzustellen. Dadurch wird Einzelhandelsumsatz nicht nur umverteilt, sondern es verändert sich auch die Funktion der Innenstadt und das Prinzip Marktplatz. Das sehen sie schon heute am zunehmenden Leerstand. Eigentümer können vielerorts einfach auch nicht mehr die Mieten verlangen, die sie über Jahre gewohnt waren zu erhalten.
Und nicht wenige Kommunen müssen auch ihre Planungen hinsichtlich der Ansiedelung von Fachmärkten überdenken. Denn klar ist: Der demografische Wandel wird auch ein anderes Mobilitätsverhalten mit sich bringen. Wer fährt im höheren Alter schon gerne auf die Grüne Wiese, wenn es nur um einen kleinen Versorgungseinkauf für einen Einpersonenhaushalt geht. In ländlichen Regionen sehen wir neue Genossenschaftsmodelle für Lebensmittelläden. In gewisser Hinsicht erleben wir eine Renaissance von Tante Emma, allerdings im neuen Gewand.
Wie kann der stationäre Einzelhandel mit dem Internet konkurrieren – beim Preis scheint er letztlich der Verlierer zu sein?
Haderlein: Er sollte es erst gar nicht über den Preis versuchen, sondern seine stationären Vorzüge deutlicher kommunizieren. Und kommunizieren meine ich im engeren Sinne, also auch über das Internet. Es gibt noch viel zu viele Händler, die sich keine Homepage leisten können oder wollen. Dabei sind die Einstiegshürden heute so niedrig wie nie. Auch die finanziellen Aufwände liegen im homöopathischen Bereich. Und je- der Einzelhändler ist heute ohnehin im Netz vertreten: im schlimmsten Falle mit schlechten Bewertungen auf einer Bewertungsplattform oder in der Google Map. Es gilt also proaktiv mit der Digitalisierung umzugehen.
Was macht Amazon so viel besser als das klassische Buchgeschäft vor Ort?
Haderlein: Für Amazon sind Bücher nur ein Hilfsmittel, um mit anderen Produkten das Geld zu verdienen und das Vertrauen von Online-Kunden in die Abwicklungsprozesse inkl. Online-Bezahlung zu gewinnen. Insofern ist der Internetgigant einfach nur „frech“ genug, mit aggressiven Methoden und kostenfreier Lieferung gegenüber Verlagen und Händlern aufzutreten. Was Amazon allerdings sehr gut verstanden hat, ist das digitale Geschäft mit Büchern, also der Absatz von E-Books. Mit dem Lesegerät Kindle hat man Kunden an sich gebunden. Der deutsche Buchhandel hat hier nun aber gut reagiert und mit dem Lesegerät Tolino eine sehr gute Alternative am Markt.
Und was kann sich der Buchhändler bei Amazon noch abschauen und selbst – ohne eigene Internetabteilung – umsetzen?
Haderlein: Jeder Buchhändler kann über das Internet lernen, dass es kraftvolle Nischen gibt. Die Feld-Wald-Wiese-Buchhandlung hat es immer schwerer als etwa eine Krimi-Buchhandlung auf kleiner Fläche, die noch dazu ein attraktives Rahmenprogramm mit Lesun- gen und Veranstaltungen gestalten kann und eine treue Kundschaft zu binden im Stande ist. Und eine auf Koch- und Kulinarik-Literatur spezialisierte Buchhandlung kann den passenden Wein und Spezialitäten ins Sortiment aufnehmen, die anderswo einfach fehl am Platze wären. Denn das ist das Entscheidende, was Amazon gelehrt hat: den Aufbau eines Empfehlungsgerüstes.
Mancherorts wird über den Rückbau der Fußgängerzone nachgedacht. Ist das die Reanimation der Innenstadt?
Haderlein: Das Klagelied über zu wenig Parkplätze und fehlende Anbindung an den Straßenverkehr geht leicht von den Lippen. Aber es lenkt zu sehr vom Kern der Veränderung im Handel ab. Genauso wie auch ein fünfter verkaufsoffener Sonntag nicht den „alten“ Handel retten wird. Denn Sie können heute alles abwählen, was nervt: Parkplatzsuche, überhitzte Verkaufsräume, schlecht gelauntes Personal etc. Jedes Produkt ist nur einen Klick weit entfernt und ich bezweifle, dass der Handel künftig immer noch die erste Geige in der Innenstadt spielen wird. Auch wenn wir uns daran gewöhnt haben. Ihm geht schlicht und ergreifend das Publikum aus.
Für bestimmte Warenkategorien präferieren Kunden – aus guten Gründen – künftig den Einkauf übers Netz. Das kann ja auch ein Händler vor Ort sein, der einen Online-Shop führt. Die Einkaufsstraße als qualitativ hochwertiger Aufenthaltsraum muss sich aber mangels Frequenz neu erfinden. Wir sehen das schon heute an einem höheren Gastronomieanteil, an Fitnesscenter in der 1a-Lage oder auch an neuen Verkaufskonzepten wie Showrooms. Bei letzteren geht es ja nicht um den Verkauf, sondern um die Warenpräsentation. Bestellt und gekauft werden können die Produkte online.
Bei den Shopping-Trends, die Sie beschreiben, wandelt sich der klassische Verkäufer, der im Laden steht und auf Kundschaft wartet, zum Community-Manager aller Online- und Offline-Kanäle. Werden die Mitarbeiter und Auszubildenden im Einzelhandel heute darauf vorbereitet?
Haderlein: Da sprechen Sie ein heikles Feld an. Insbesondere die Weiterbildung von älteren Mitarbeitern ist ein großes Problem. Denn viele sehen im Internet oder in Multichannel-Strategien ein rotes Tuch. Dabei muss immer deutlich sein, dass das stationäre Geschäft der Zukunft zwar online immer mehr vorbereitet, vor Ort aber mit höchsten Ansprüchen an den Service abgeschlossen wird. Dass ein Verkaufsmitarbeiter auch mit mobilen Endgeräten umgehen lernen muss, versteht sich von selbst.
Haben Sie abseits der großen Handelskonzerne ein gutes Beispiel, wo und wie die Verzahnung von offline und online im stationären Handel gelungen ist?
Haderlein: Ein Bravourstück ist den Gründern von „Emmas Enkel“ gelungen, einem Düsseldorfer Lebensmittelladen, der sich Multichannel-Exzellenz auf die Fahnen geschrieben hat. So steigerte das Unternehmen den Online-Anteil am Gesamtumsatz von anfänglich 5 auf mittlerweile 65 Prozent. Und das im Segment Online-Lebensmittelhandel, das hierzu- lande als äußerst schwierig eingestuft wird. Das ist der Tante-Emma-Laden des 21. Jahrhunderts. Ein Tablet zur Bestellung des Einkaufs im markteigenen Café, eine QR-Shopping-Plakatwand an Bushaltestellen zur schnellen Mitnahme-Order des täglichen Routineeinkaufs oder der Ausbruch aus dem Warengruppenschema mit Themenkörben wie „Sofaabend“ oder „Hilfe, spontaner Besuch kommt“ sind Innovationen von „Emmas Enkel“, die es ohne E-Commerce und Smartphone nicht gegeben hätte. Sie aber sind es, die dem stationären Handel den Weg in die digitale Zukunft weisen.
Gerade in kleinen Städten haben es die Händler schwer. Dennoch sitzen bei den Versammlungen der Gewerbevereine oft nur eine Handvoll Mitglieder, um über Konzepte zu beraten. Was raten Sie einem Vorsitzenden der lokalen Einzelhändler, wie kann er das Ruder in seiner Stadt herumreißen?
Haderlein: Für diese Schlüsselfigur sind eine außerordentliche Moderatorenfähigkeit und interkulturelle Kompetenz sicherlich unabdingbar, will er konzertierte Aktionen vor Ort auf die Strecke bringen. Der Handel alleine wird es aber nicht schaffen. Wir brauchen den kooperativen Aufstand gegen Innenstadtverödung. Am Runden Tisch müssen neben Händlern und Dienstleistern ebenso Vertreter aus der Immobilienbranche, die Eigentümer wie auch Politiker, Stadtmarketing-Verantwortliche und nicht zuletzt die ortsansässigen Zeitungsverlage sitzen. Nur so kann man der wichtigsten Stellschraube in diesem Gefüge, dem Verbraucher vor Ort, klar machen, dass die Innenstadt ein identitätsstiftendes Merkmal des Standorts ist, das verloren geht, wenn nur noch die immer gleichen Filialisten, Handyläden und 50-Cent- Shops das Erscheinungs- bild prägen. Denn Kunden sägen mit ihrem Kaufverhalten mitunter am eigenen Ast auf dem sie sitzen.
Ein Interview mit mir zur Online City Wuppertal steht auch auf der WDR-Website: http://t.co/DfUM5rHWxz
— Andreas Haderlein (@hybridfuture) 25. Juni 2014
Zur Person:
Andreas Haderlein, Jahrgang 1973, aus Frankfurt ist Wirtschaftspublizist und selbstständiger Unternehmensberater. Von 2002 bis 2011 arbeitete er für das renommierte Zukunftsinstitut von Matthias Horx, wo er unter anderem die Weiterbildungseinrichtung „Zukunftsakademie“ leitete.
Als Trend- und Zukunftsforscher veröffentlichte er Studien und Trenddossiers, darunter „Future Shopping“ (2009) oder „Die Netzgesellschaft – Schlüsseltrends des digitalen Wandels“ (2011). Im September 2012 erschien sein Ratgeber „Die digitale Zukunft des stationären Handels“, in dem er sich mit Multikanal-Strategien im Einzelhandel auseinandersetzt. Aktuell beschäftigt er sich mit den Themen Innenstadtverödung, Stadtentwicklung und Einzelhandelsförderung.
Kontakt: www.sales-design.de
Titelfoto: pixabay.com
Beitragsfoto: www.sales-design.de
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